Radioaktivität im Zürichsee

Eine Chemiefabrik in Uetikon am See hantierte rund 200 Jahre lang mit radioaktiven Stoffen. Nun soll das Gelände überbaut werden. Ein Fachmann warnt vor Radium – und läuft auf.

Der Beobachter.ch, 23.01.2025 und blick.ch, 23.01.2025, Thomas Angeli
Radioaktivität im Zürichsee – und das Amt will nichts wissen
Eine Chemiefabrik in Uetikon am See hantierte rund 200 Jahre lang mit radioaktiven Stoffen.
Nun soll das Gelände überbaut werden. Ein Fachmann warnt vor Radium – und läuft auf.
Es könnte gerade besser laufen an der Zürcher Goldküste. «Chance Uetikon» heisst das
Grossprojekt auf dem Gelände der ehemaligen Chemiefabrik mit direktem Seeanstoss. Doch
im Moment geht praktisch nichts. Geplant sind eine neue Kantonsschule, ein Seepark,
Luxuswohnungen – und eine umfassende Sanierung des Uferbereichs. Denn die auf Säure und
Dünger spezialisierte «Chemische» hatte ihre Abwässer jahrzehntelang in den Zürichsee
gepumpt. Und damit unter anderem Arsen, Blei und weitere Schwermetalle. Genau diese
Altlasten verzögern im Moment die Neugestaltung des attraktiven Areals.
Die Methode «Kies drüber»
Zwar sind 80 Prozent der Fläche mittlerweile saniert. Doch in Ufernähe kamen immer
grössere Mengen problematischer Altlasten zum Vorschein. Die Zürcher Baudirektion
beschloss deshalb, bloss die obersten eineinhalb Meter des verseuchten Materials abzutragen
und den Rest mit rund 60’000 Tonnen Kies zu bedecken.
Diese sogenannte Überschüttung rief jedoch die «Lobby für Uetikon» auf den Plan, eine
Gruppe von Einheimischen, die eine nachhaltige Sanierung des Seegrunds fordert. Die
«Lobby» zog den Fall vor das kantonale Baurekursgericht und konnte im Oktober 2024 einen
ersten Erfolg verbuchen: Das Gericht entschied, dass es für das Vorhaben der Baudirektion
weitere Abklärungen braucht.
Weiter untersuchen, fordert der Strahlenfachmann
Die «Lobby für Uetikon» jubelte – nur einer nicht: Marco Bähler. Der diplomierte
Strahlenfachmann kritisiert, dass der Kanton keine weiteren radiologischen Untersuchungen
durchführen will.
Zwar lagen bei den bisherigen Sondierbohrungen im See alle Strahlungswerte unter der
sogenannten NORM-Befreiungsgrenze für natürlich vorkommende Radionuklide (Naturally
Occurring Radioactive Material, NORM). Doch solange man keine weiteren Untersuchungen
durchführt, wisse man auch nicht, wo genau sich welche – unter Umständen gefährlichen –
Mengen Radium im See vor Uetikon anreicherten, kritisiert Bähler. Denn der radioaktive
Stoff kommt im Phosphatmineral vor, das für die einst in Uetikon produzierten Düngemittel
als Ausgangsstoff diente.
Messgeräte zeigen hohe Radon-Werte
Auch an Land nahm man Proben, und auch deren Strahlungswerte lagen unter dem
Grenzwert. Bähler kritisiert jedoch, man habe diese Messresultate bewusst «verdünnt», indem
man für die zwei Meter langen Bohrkerne jeweils nur einen Mittelwert angegeben habe:
«Wenn in einer Schicht von zum Beispiel 50 Zentimetern Dicke viel radioaktives Material
vorliegt, in den anderen eineinhalb Metern aber nicht, dann kann man mit dieser
Beprobungsmethode erreichen, dass die Messwerte unter den Grenzwerten bleiben.»

Strahlenfachmann Bähler vermutet deshalb auch radioaktive Hotspots an Land. In einem
Bohrloch in einer Halle am Westende des Geländes haben seine Radon-Messgeräte vor
einigen Monaten bis zu 3000 Becquerel pro Kubikmeter angezeigt – zehnmal so hoch wie der
in der Strahlenschutzverordnung festgelegte Referenzwert. Radon ist ein gasförmiges
Zerfallsprodukt von Radium. Anders ausgedrückt: Wo man Radon findet, muss Radium
vorhanden sein.
Radioaktives Material im offenen Container entsorgt
Und Bähler hat noch mehr entdeckt: radioaktive Bohrkerne, die in einem offenen Container
auf dem ehemaligen Fabrikgelände entsorgt worden sind. Zwei dieser Bohrkerne liess er
extern untersuchen. Das Resultat, das dem Beobachter vorliegt: In einem Bohrkern zeigte die
Messung 1270 Becquerel pro Kilogramm, was deutlich über der NORM-Befreiungsgrenze
liegt.
Im momentanen Zustand sei das Radium im Boden kein akutes Problem, räumt Bähler ein:
«Auf dem Gelände wohnt aktuell niemand über den Radon ausgasenden Schichten. In
Zukunft sollen dort aber Menschen wohnen und zur Schule gehen. Und im See könnten die
unstabilen giftigen und radioaktiven Schichten beim nächsten Erdbeben abrutschen und ins
Trinkwasser verwirbelt werden.»
Mit seinen eigenmächtigen Nachforschungen schafft sich Bähler keine Freunde beim
zuständigen Amt für Abfall, Wasser, Energie und Luft (Awel) des Kantons Zürich. Unter
anderem kritisiert er, das Awel sei nicht bereit, alle entsprechenden Berichte herauszurücken.
Amt: Bauherrschaft ist für Radon-sichere Bauten verantwortlich
Das Amt widerspricht: Man habe Bähler zu den Sanierungsarbeiten in Uetikon «die Resultate
sämtlicher radiologischer Messungen» zugänglich gemacht, erklärt eine Sprecherin. Eine
spezialisierte Firma habe «in rund 60 Bohrungen auf dem gesamten Areal die radioaktive
Belastung im Untergrund gemessen». Dabei sei der Grenzwert nie überschritten worden.
Zu Bählers eigenen Messungen will sich die Awel-Sprecherin nicht äussern: Man habe keine
Kenntnis davon. «Das Awel bezieht in seine Bewertung nur Messwerte von akkreditierten
Labors ein, zu denen Herr Bähler nicht gehört.»
Selbst das Awel räumt aber ein, dass durch das Radium im Boden krebserregendes Radon in
die geplanten Bauten eindringen könnte. Die Gefahr sei «erkannt und auf dem Radar des
Awel wie auch der Eigentümerschaften». Das Amt mache in den Baubewilligungen
entsprechende Hinweise an die Bauherrschaften.
Quellen «Lobby für Uetikon»: Medienmitteilung zum Entscheid des Baurekursgerichts
Baudirektion des Kantons Zürich: Medienmitteilung Bundesamt für Gesundheit:
Referenzwert für Radon Bundesamt für Gesundheit: Befreiungsgrenze für «Naturally
Occuring Radioactive Material» (NORM)

Siehe auch: Rad. Abfall im „Zürisee“ – Fokus Anti-Atom